Schon ein paar Wochen ist's wieder her, da widerfuhr mir eine außergewöhnliche Begegnung. Mit dem Auto war ich unterwegs von Göttingen nach Darmstadt. Eine Autobahnraststätte suchte ich auf und tat seltsamerweise, was ich sonst nie tue: Ich aß dort. Der Trick mit dem Coupongutschein, den man auf der sprechenden Toilette bekommt und beim Essen einlösen kann, schien zu wirken. So berappte ich also unglaubliche Summen für einen kleinen Salat und ein Brötchen. Während des wenig genussvollen Verspeisens derselbigen sprach mich ein alter, verranzt und ungepflegt aussehender Mann an, ob ich ihn ein Stück mitzunehmen gewillt sei. Sonderlich gewillt war ich ehrlich gesagt nicht, genoss ich doch gerade die anmutige Einsamkeit bei schöner Musik auf der Autobahn, doch sagte ich freilich dennoch sogleich zu; schließlich war ich es, der vor Jahren auch gelegentlich auf solchen Rastplätzen stand und sich ärgerte, dass niemand anzuhalten gewillt war. Der Herr nun, war angeblich schon seit über 2 Tagen nonstop und ohne Schlaf und Geld unterwegs. Wir luden seine Unmengen Gepäck ins Auto. Alsbald stellte sich heraus, dass dies sein ganzes Hab und Gut war. In unserem Gespräch, das sich bald entwickelte, stellte sich heraus, dass der Herr auf dem Highway To Hell unterwegs war (oder sollte man sagen: Stairway To Heaven?), auf dem Weg zur Sterbehilfe in die Schweiz. Er habe das Leben schon lange satt, zauderte er in seinem, wenn auch um Freundlichkeit bemühten, doch stets aufgebracht-gereizten, vor allem aber gänzlich desillusionierten Ton. Die Existenz auf dieser Erde sei eine Katastrophe und er sei heilfroh, dass er endlich gehen dürfe. Seit Jahren habe er Knochenkrebs und könne sich ob der Schmerzen kaum auf den Beinen halten. Geld habe er auch nicht und nie welches verdient, von Anfang an sei sein Leben furchtbar gewesen, ihm sei Unrecht über Unrecht geschehen. Schon viel früher habe er sich in die Hände der nur in der Schweiz möglichen Sterbehilfe begeben wollen, doch ein befreundeter Professor habe ihm nahegelegt, vorher solle er sein Leben noch aufschreiben. Dies habe er getan, das Manuskript sei in seinem Gepäck und er werde es einen Tag vor seinem am 5. November vereinbarten Tod an den Verlag schicken. Geschrieben habe er immer schon vieles, über sein Schicksal, vor allem aber Gedichte. Aus dem Kopf, rezitierte er mir die knapp einstündige Fahrt zur nächsten Raststätte über ein Gedicht nach dem andern. In Paarreime goss er Abgesänge auf unsere Zivilisation und das Leben auf diesem Planeten, die sämtlich selbstverfasst und künstlerisch nicht sonderlich wertvoll waren. Doch war ich sehr beeindruckt von seinem Gedächtnis und noch mehr von seiner spontanen Kreativität: Er fragte mich nach meinem Vornamen und Geburtsort und kreierte spontan ein Gedicht über mich und meinen Lebensweg! Noch interessanter waren aber die Berichte aus seinem Leben, die er vor kurzem ja auch zu Papier gebracht zu haben vorgab. Geboren als Kind jüdischer Überlebender im Nachkriegsdeutschland, die auf ominöse Weise ermordet worden seien, wurde er in ein Kinderheim gesteckt, die seinerzeit wie man weiß in der Tat Vorboten der Hölle gewesen sein müssen. Bei einer der Elektroschockbehandlungen in jungem Alter wäre er fast gestorben, ja er war schon tot und hatte eine Nahtoderfahrung! Von diesem Zeitpunkt war mir klar, dass dies wieder mal - wie natürlich alles, aber nur manchmal fällt es uns auf - kein Zufall gewesen sein kann, hatte ich mich doch gerade in der letzten Zeit mit diesem Thema beschäftigt. Er berichtete - wie übrigens fast alle - nur Positives. Er sei auf einer grünen Wiese mit ganz vielen sehr freundlichen und freudigen Menschen gewesen und habe sich mit Ihnen unterhalten. Worüber wusste er nicht mehr, aber die Erfahrung dieses Lebens nach dem Tode, hat freilich auch sein Leben verändert. Er sei gläubig geworden und bete jeden Tag zum Herrgott und lese in der Bibel, aus der er überdies viel zu zitieren wusste. Er habe sein Leben damit verbracht auf Podien zu sitzen und über seine Misshandlungs- einerseits und Nahtoderfahrungen andererseits zu berichten, da er 1968 beim Trampen - er trampe seit über 40 Jahren - Studierende kennengelernt habe, die seinen Fall an die Öffentlichkeit haben bringen wollen. Erreicht habe er nichts, da er mehr als ein Verfahren nicht durchgestanden habe - und wie gesagt sei sein Leben eben eine einzige Katastrophe gewesen.
Da ich selbst seit einigen Monaten von kaum etwas überzeugter bin als von der Unsterblichkeit unseres Wesens, fand ich im Gespräch viele Anknüpfungspunkte und versuchte auch sein Weltbild etwas aufzuhellen, schließlich würde Gott ja nicht zu allen so unmittelbar sprechen wie zu ihm und alledem eigne doch gewiss eine Form von Notwendigkeit in Form der Unendlichen Klugheit der göttlichen Vorsehung (ich versuchte in der Sprache seiner religiösen, christlichen Überzeugung zu kommunizieren). Doch er wollte freilich nicht hören und sein Weltbild, das ihn in den freigewählten Tod fuhr (Ja, ich fuhr ihn dahin, wie grotesk!), nicht revidieren. Überhaupt war er stur und wie gesagt deprimiert und negativ. Natürlich kann ich's ihm nicht verdenken, mit schwerem Knochenkrebs, einem fast handballgroßen Tumor auf dem Kopf, in schmutzigen Klamotten und auf dem Weg von einem Freund in Oslo Tage nicht geschlafen habend. Als ich ihm an der finalen Raststätte trotz vorheriger Beteuerungen kein Geld für Essen, Schlaf oder Kaffee für ihn zu haben - den angebotenen Apfel konnte er mangels Zähnen nicht annehmen - doch noch 10 Euro in die Hand drückte, bedankte er sich nicht, sondern rüffelte zurück: Ich dachte Du hast nichts!